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Exkurs: Talmud

 

Die elektronischen Diskussionsforen haben einen Vorläufer in einer gänzlich untechnischen Kultur: im antiken Judentum. Der Talmud als Sammlung von Diskussionen zu religiösen und alltagsweltlichen Problemen ist in seiner Organisationsform einer Diskussion in einem elektronischen Diskussionsforum erstaunlich ähnlich.

Der Talmud (d.h.: die `Lehre') besteht aus Mischna und Gemara. Die Mischna, die `mündliche Tora', ist eine Sammlung religiöser Gesetze und insofern eine praktische Ergänzung zur Bibel, der `schriftlichen Tora'. Lange Zeit ist die `mündliche Tora' tatsächlich v.a. mündlich überliefert worden. Es gehörte zur rabbinischen Schultradition, die Mischnatexte auswendigzulernen und im Idealfall den Unterricht auf Basis des Auswendiggelernten rein mündlich durchzuführengif. Die Gemara ist die Auslegung der Mischna. Sie enthält Kommentare verschiedenster Lehrer unterschiedlicher Epochen zu den Gesetzen. Sie hat somit die Form einer Diskussion, die wie diejenige in den elektronischen Diskussionsforen abläuft, ohne daß die Teilnehmer Raum und Zeit teilten. Eine Abgeschlossenheit als Buch bekam der Talmud erst, als die jüdischen Institutionen, v.a. das rabbinische Schulwesen, durch Verfolgung und Vertreibung in ihrem Bestand gefährdet waren. Um die kulturelle Identität zu sichern, wurden die Diskussionen des Talmuds in zwei unterschiedlichen Hauptfassungen konserviert: dem palästinischen Talmud (im 5.Jh. n.Chr.gif) und dem babylonischen Talmud (5./6.Jh. n.Chr.gif). Der Aufbau eines Talmud-Traktats bzw. `Artikels' ist so, daß sich in der Mitte der Seite ein Mischna-Gesetz befindet, um das herum sich die Kommentare der Rabbiner gruppieren, wodurch die Diskussionsstruktur entstehtgif. Für die Buchfassung wurden die Diskussionen nicht aufgelöst, keine Problemlösungen gegeben. Stemberger schreibt zur Entstehung des palästinischen Talmuds:

``Die schon erwähnten zahlreichen Wiederholungen größerer Textstücke, aber auch die vielen Widersprüche innerhalb des Talmud haben manche zum Schluß geführt, es habe gar keine Redaktion im eigentlichen Sinn gegeben. Der Talmud sei vielmehr eine eilige Stoffsammlung, in der einfach größere Materialblöcke aus den verschiedenen Schulen ungeordnet und unvermittelt nebeneinander gestellt worden sind. Dagegen ist allerdings zu sagen, daß wir die Anordnung des Talmud nicht nach heutigen Kriterien beurteilen dürfen. Offenbar war es ein Prinzip der Redaktoren, schon bestehende Texteinheiten nicht auseinanderzureißen. Wo wir heute einfach in einer Fußnote auf eine andere Stelle des Buches verweisen, die im Zusammenhang zu vergleichen ist, zitieren die Redaktoren des palästinischen Talmud die betreffende Stelle wörtlich im Text; auch bringen sie sie in ihrem ganzen Zusammenhang, auch wenn nur ein einziger Satz davon an der anderen Stelle relevant ist. Man mußte ja immer auch damit rechnen, daß jemand nicht das Gesamtwerk, sondern nur einen Traktat davon zur Verfügung hatte und ihm daher mit Querverweisen nicht viel geholfen wargif.''

Diese Aussage läßt sich fast gleichlautend für das Funktionieren der elektronischen Diskussionsforen formulieren. Die Praxis des Quotensgif führt ebenfalls zu ``zahlreichen Wiederholungen größerer Textstücke'' in ein und demselben Diskussionsforum. Aber der Produzent eines Artikels X kann ja nicht wissen, ob der Artikel Y, auf den sein Artikel X rekurriert, noch gespeichert und einem Leser von Artikel X zugänglich ist. Außerdem ist das Browsen auf der Suche nach Referenztexten genauso lästig wie das Blättern in einem Folianten. In den Diskussionsforen gibt es zudem ebensowenig eine Redaktion, die widersprüchliche Darstellungen desselben Themas auflöst wie im Talmud (nicht einmal in den moderierten Foren des FIDONETs). So trifft sich der demokratische Gleichheitsanspruch der Netzwerker mit der Gesellschaftsform des Judentums. Dort haben die Rabbiner zwar eine herausgehobene Position (v.a. in der sog. ``rabbinischen Zeit'', in der der Talmud entstanden ist). Bergler stellt jedoch klar:

``Es [das Judentum, SR] hat niemals ein zentrales Lehramt gehabt, das über die richtige Auslegung befunden hätte, sondern es war immer eine demokratisch gesinnte Gemeinschaft. Bis heute sind Rabbiner keine Gemeindeleiter, sondern die einzelnen Gemeinden nehmen durch einen gewählten Vorstand diese Aufgabe selbst wahr. Dem vergleichbar können sich alle an dem Auslegungs- und Anwendungsprozeß der Tora beteiligen. Doch nie hat nur einer recht! Vielmehr ergibt sich im Verlauf der Diskussion vielleicht eine Mehrheitsmeinung, die für die Gemeinden verbindlich wirdgif.''

Ohne hier tiefer in die religionswissenschaftliche Materie eindringen zu können: Ein formaler Vergleich der Stellung von Rabbinern in der jüdischen Gesellschaft und Systemverwaltern in der Netzgesellschaft wäre lohnend. Der Rabbiner ist der Lehrer, der in der Diskussion Geübte, dessen Auslegung nicht (wie ein Dogma des Papstes) absolut ist, aber inhaltliches Gewicht hat. Auch dem Systemverwalter wird, ungeachtet des Gleichheitspostulats der Netzwerker, nicht nur eine besondere Kompetenz im Bereich des Netzbetriebs eingeräumt. Nach einer Untersuchung des Trierer Autorenkollektivs stellt die Gruppe der Systemverwalter 72% der Meinungsführer in den Netzwerkengif, also derjenigen, deren Meinung besonderes Gewicht auch in Diskussionen hat, die sich nicht um den Netzbetrieb oder andere technische Fragen drehen.

Die Parallelitäten von Talmud und elektronischen Diskussionsformen befinden sich im Bereich der Organisationsstruktur. Die sprachliche Form ist nicht vergleichbar. ``Denn der Talmud spricht formelhaft, stereotyp. Es dominiert die Erzählprosa ...gif.''. Eine durch formale Prinzipien von dialogischer Mündlichkeit geprägte Sprache wie in den elektronischen Diskussionsforen liegt nicht vor.


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