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Zusammenfassung

 

In den Kapiteln 3.1 und 3.2 wurde zum einen gezeigt, daß die Artikel in den elektronischen Diskussionsforen Eigenschaften der konzeptionellen Mündlichkeit in einem Maße haben, wie es in der Schriftlichkeit bisher noch nicht vorkam. Zum anderen wurden in den polytopen Texten tatsächlich dialogische Strukturen und Verfahren nachgewiesen, so daß man sie nicht als `Dialogsimulation' bezeichnen, nicht mit der `fingierten Dialogizität' in Dramentexten und Romanen oder den herkömmlichen Massenmedien gleichsetzen darf. Mit diesem Ergebnis wird aber nicht die Tatsache übersehen, daß die Artikel in der Gesamtinterpretation nicht nur medial, sondern auch konzeptionell der Schriftlichkeit angehören. Ein einziger Blick auf die Verschriftung eines gesprochenen Gesprächs macht das deutlich. Während in der gesprochenen Mündlichkeit kaum syntaktisch vollständige und ohne eine Unzahl von Interjektionen, Anakoluthen, Ellipsen, Redundanzen und ähnlichem gebildete Sätze vorliegengif, sind solche Phänomene in der CVK zwar bemerkenswerte Ausnahmen - aber sie bleiben eben Ausnahmen in sonst durchaus konzeptionell schriftsprachlichen Äußerungen. Ähnliches gilt für die Dialogizität. In den Diskussionsforen liegen interaktive Strukturen und Verfahren vor - es bleibt jedoch die räumliche und zeitliche Trennung der Gesprächspartner mit allen ihren Folgen (kein Sprecherwechselsystem, Manipulationsmöglichkeit schon geäußerter - geschriebener - Gesprächsschritte etc.). Ein echtes Face-to-Face- Gespräch lebt zu einem guten Teil von der Dynamik echter `Gemeinschaft'. Es ist eine gängige Erfahrung, daß durch die spürbare menschliche Anwesenheit des Gesprächspartners die Rede nachhaltiger verändert wird als durch die kompliziertesten Gesprächsführungstechniken. Kleist formuliert das in seiner Schrift Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden (1805/06) zutreffend folgendermaßen:

``Es liegt ein sonderbarer Quell der Begeisterung für denjenigen, der spricht, in einem menschlichen Antlitz, das ihm gegenübersteht; und ein Blick, der uns einen halbausgedrückten Gedanken schon als begriffen ankündigt, schenkt uns oft den Ausdruck für die ganze andere Hälfte desselbengif.''

Die psychologischen Prozesse, die über nonverbale und nonvokale Signale ausgelöst werden, können in der CVK nicht stattfinden; zu defizitär ist die Substitution der nonverbalen, nonvokalen Zeichensysteme. Eine Gleichheit der CVK mit der Face-to-Face- oder Telephonkommunikation wird aber auch nicht postuliert. Es wird lediglich die These von der `Digitalisierung' des Denkens und Sprechens widerlegtgif. Aufgrund der Popularität dieser These in den Geistes- und Sozialwissenschaften erscheint der Nachweis mündlicher und dialogischer Qualitäten in der CVK überraschend. Soziologisch betrachtet war dabei immer eher das Gegenteil zu erwarten. ``[H]ochkontrollierte und kontrollierbare Kommunikation... evoziert die Notwendigkeit eines elektronischen `whispering'gif.'' Abstrakt-sprachliche Selbstkontrolle ist konstitutiv für die konzeptionelle Schriftlichkeit in der Sprache der Distanz - ihr Nachlassen eine fast notwendige Folge der Fremdkontrolle durch die Computerprogramme. Im Korpus lassen sich darüberhinaus Formen bewußter Desautomatisierung nachweisen. Solche Formen liegen in der häufigen Verfremdung von zwei automatisch generierten Textbausteinen vor. An die Stelle der in Z. 6 des Headers vorgesehenen Organisationsangabe treten oft Losungen oder Sprüche, die funktional denen der Signature ähneln: Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben (a002), Gestern, OS2: Bei 60 Tasks hatte ich keine Apps mehr (a045), blaablaablaablaa (a119) etc.. Und die Standardzitatangabe In article [Bezeichnung] [E-mail-Adresse/Name des Anwenders] writes/wrote (a028, a072 u.v.a.) findet sich verwandelt in Du (SYSOP ) hattest am 12.07.1995 folgende Gedanken zum Thema ... (a122) oder ...benutz(t)e seine Tastatur am 14.07.1995 um 05:15:41, um folgenden Text ... zu zeugen (040) und in vielen anderen Formen wieder.

Rüdiger Weingarten spricht davon, daß eine neue Art zu schreiben früher oder später neue Textstrukturen hervorbringen wird.

``Diese zeitlichen Verschiebungen zwischen Textstruktur und Textmedium konnten auch bei der Einführung der Schrift beobachtet werden, wo Formen mündlicher Kommunikation wie Reim und Rhythmus in der literalen Gesellschaft noch lange Verwendung fanden. Erst allmählich stabilisieren sich Texttypen, die den spezifischen Bedingungen und Möglichkeiten eines neuen Mediums Rechnung tragengif.''

Die Sprachform der elektronischen Diskussionsforen ist ein solcher neuer Texttyp, der die in Kap. 3 erörterten Charakteristika hat und damit Elemente konzeptioneller Mündlichkeit in die Schriftlichkeit integriert.


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